Seltene Wahnstörungen

Seltene Wahnstörungen

Was ist Wahn und welche Art von Wahn können Menschen erleben. Verwandeln wir uns manchmal wirklich in lebende Tote oder Werwölfe?

Psychische Erkrankungen wurden früher häufig und etwas abfällig als Wahnsinn bezeichnet. Psychisch kranke Menschen nannte man folgerichtig wahnsinnig. Das Wort wird im Volksmund heute noch verwendet, auch wenn es schon seit langem kein medizinischer Begriff mehr ist.
Das verallgemeinernde Begriff „Wahnsinn“ legt nahe, dass der Wahn etwas typisches ist und psychische Erkrankungen ausmacht. Tatsächlich gehört der Wahn als Symptom zwar zu einigen Erkrankungen dazu. Aber bei weitem nicht jeder, der an einer psychischen Erkrankung leidet, zeigt auch Wahnsymptome. Was also ist der Wahn?
Der Wahn gehört zur Gruppe der so genannten „Inhaltlichen Denkstörungen“. Bei diesen Störungen kann der Betroffene durchaus klar, folgerichtig und logisch denken. Inhaltlich gestört ist dieses Denken jedoch, weil sie oder er sich übermäßig mit Dingen beschäftigt, die für nicht am Wahn erkrankte gar nicht existieren.
Nehmen wir als Beispiel den so genannten Eifersuchtswahn, der im Rahmen einer Alkoholerkrankung häufig bei Männern auftritt. Ein solcherart erkrankter Mann ist dann der festen Überzeugung, dass er von seiner Ehefrau sexuell betrogen wird. Wenn diese z.B. beteuert, sie sei nur zum Einkaufen gewesen, wittert er ein heimliches Date. Wird sie auch nur fünf Minuten länger als erwartet bei der Arbeit aufgehalten, hat sie sich mit einem Liebhaber getroffen. Hat sie keine Lust mit ihrem Mann zu kuscheln, hat sie ihren sexuellen Hunger bereits mit einem anderen Mann gestillt.
Der Wahnkranke wird also in jeder Reaktion seiner Frau Hinweise entdecken, die seine Eifersucht noch verstärken. Er wird nach Beweisen suchen und diese auch finden, zumindest wird er davon überzeugt sein, welche gefunden zu haben.\par
Was für Außenstehende auf den ersten Blick komisch wirken kann, ist für die Betroffenen, also sowohl den Erkrankten als auch seine Partnerin, furchtbar, denn es gibt keine Möglichkeit den Wahnkranken von der Unschuld seiner Frau zu überzeugen. Jedes Leugnen, jeder Versuch eines Gegenbeweises, jede zusätzliche Stimme, die die Ehefrau verteidigt, bestärkt den Mann nur noch darin, dass sich die Welt gegen ihn verschworen hat um die Untreue seiner Frau zu decken. Bedingt durch die enthemmende Wirkung des Alkohols kann eine solche Situation zudem auch eskalieren und es kann zu Gewalttätigkeiten bis hin zur schweren Körperverletzung oder etwas Schlimmerem kommen.

Etwas abstrakt formuliert kann man den Wahn also als eine inhaltliche Denkstörung definieren, bei der die Realität unkorrigierbar fehlgedeutet wird.

Diese unkorrigierbaren Fehlwahrnehmungen kommen bei verschiedenen psychischen Erkrankungen vor, vor allem bei der Schizophrenie, der schweren Depression und dem schon erwähnten Alkoholismus. In leichter Form findet man sie auch bei anderen psychischen oder organischen Erkrankungen.

Das Wahnerleben kann mit antipsychotisch wirkenden Medikamenten gelindert werden. Der Wahn kann jedoch auch vorübergehend sein und je nach Erkrankung nach einer mehr oder weniger kurzen Zeit von selbst wieder verschwinden.

Wahn tritt in unterschiedlichen Formen auf, die sich gegenseitig verstärken und ein so genanntes Wahnsystem aufbauen können. Schauen wir uns diese Erscheinungsformen des Wahns also etwas genauer an.

Wahnsysteme

Das eigentliche Wahnerleben beginnt häufig mit einer so genannten „Wahnstimmung“. Die Betroffenen haben zunächst den vagen Eindruck, dass sich Welt verändert hat. Irgendetwas stimmt nicht. Im nächsten Schritt kommt es zu den „Wahnwahrnehmungen“, die eher emotionale Ebene der ersten Wahnstimmung wird nun durch falsche Gedanken oder Kognitionen ergänzt. Nehmen wir als Beispiel den Größenwahn: Der Betroffene sieht auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei Männer, die zu seinem Fenster hinaufsehen. In seinem Wahn glaubt er, er habe es mit zwei Spionen zu tun, die ihn ausspähen wollen. Zu dieser aktuellen Wahrnehmung, denn tatsächlich stehen auf der anderen Straßenseite ja zwei Männer, treten nun weitere „wahnhafte Erinnerungen“. Der Wahnkranke glaubt sich nun zu erinnern, dass er schon seit seiner Kindheit immer wieder beobachtet worden ist. In seiner Verzweiflung kommt ihm im nächsten Schritt eine „Wahnidee“. Nur er kann als ein von Gott Gesandter die Welt retten und finstere Mächte wollen ihn daran hindern. Der Wahn wird nun zu einem ganzen „Wahnsystem“ ausgebaut, in dem sämtliche Puzzleteile in einander greifen: Die beiden Männer dort drüben sind Teil dieser weltumspannenden Verschwörung und hier liegt auch die wahndynamische Erklärung für die eigenartige Wahnstimmung, die er zu Anfang erlebt hat. In Wirklichkeit hat er da bereits seine eigene Überlegenheit als zukünftiger Retter der Welt gespürt.
Das durch diese „Wahnarbeit“ entstandene Wahnsystem ist für die Betroffenen in sich schlüssig, auch, wenn es, wie im Fall des alkoholbedingten Eifersuchtswahnes für Außenstehende absurd anmuten mag. Besonders fatal an einem Wahnsystem ist dass alles und jeder in dieses System eingebaut und umgedeutet werden kann. Im Fall des Eifersuchtswahnes ist es zum Beispiel die Verspätung der Ehefrau, die als Hinweis auf die Untreue verstanden wird, auch wenn es hierfür eine völlig harmlose Erklärung gibt. Da aber die Ehefrau durch die Untreue unglaubwürdig geworden ist, ist auch die vorgebrachte Erklärung natürlich unglaubwürdig. Gleiches gilt für die beiden harmlosen Passanten, die zufällig die Fassade eines gegenüberliegenden Hauses betrachtet und als Teil einer allumfassenden Verschwörung wahrgenommen werden: Wenn man den Betroffenen versucht hiervon zu überzeugen, wäre man in seinen Augen ebenfalls Teil dieser Verschwörung.

Aus dieser Dynamik eines Wahnsystems erklärt sich Begriff der Unkorrigierbarkeit in der Definition des Wahns. Wir erinnern uns, der Wahn ist „eine unkorrigierbare Fehlwahrnehmung der Realität“ und, wir können jetzt noch ergänzen, die sich dynamisch selbst verstärkt.

Was wir hier anhand des Eifersuchtswahnes und des Größenwahns gedanklich durchgespielt haben, gilt für sämtliche Wahnformen, von denen es eine ganze Menge gibt. Manche von ihnen sind dabei typisch für bestimmte Krankheitsbilder. Wie erwähnt verfallen alkoholkranke Männer häufig in den Eifersuchtswahn. Hierfür gibt es gut nachvollziehbare medizinische Gründe: Bei fortgesetztem Alkoholkonsum kommt es bei Männern häufig zu sexuellen Funktionsstörungen vor allem zu Erektionsstörungen, die einen großen Leidensdruck bedeuten. Weil sie keinen Zusammenhang zwischen dem Alkohol und ihrem Problem sehen, wird dieses als Problem der Partnerschaft verstanden und der Frau die Schuld hierfür zugeschoben: Weil Mann immer kann muss es an der Frau liegen.

Im Rahmen der Schizophrenie tritt häufig der Verfolgungswahn auf. Besonders beim ersten Auftreten eines psychotischen Schubes reagieren die Betroffenen deswegen mit sozialem Rückzug. Die Welt und andere Menschen werden als Bedrohung erlebt, gegen die man sich nicht wehren kann. Hin und wieder verteidigt man sich auch aggressiv gegen diese Übermacht.

Im Rahmen einer manischen Erkrankung entstehen nicht selten Gefühl von Großartigkeit oder Unbesiegbarkeit, die sich ebenfalls zu Wahnsystemen ausbauen können. Man glaubt sich unverwundbar und unverletzbar und keine Macht der Welt kann einem etwas anhaben. Auch hier kann es zu aggressivem Verhalten zum Beispiel im Straßenverkehr kommen.

Auch schwer depressive Menschen können an leichten Wahnstörungen leiden: Das ganze Leben scheint sinnlos, nichts hat einen Wert, freundliches Verhalten ihnen gegenüber kann nicht echt sein. Diese Wahnstimmungen vermischen sich zum Teil mit Halluzinationen, man riecht Fäulnis und alle Nahrung schmeckt nach Verwesung.
In sehr seltenen Fällen systematisieren sich diese depressiven Wahnstimmungen und Halluzinationen jedoch auch zu echten Wahnformen.

Cotard-Syndrom

Die im Verhältnis noch bekannteste dieser sehr seltenen Wahnformen ist das Cotardsyndrom. Es ist benannt nach seinem Entdecker, dem französischen Neurologen Jules Cotard. Sein Entdecker nannte den Zustand „délire des négations“, das „Delirium der Nicht-Existenz“. Das Cotard-Syndrom tritt nicht nur bei schwersten Depressionen, sondern auch bei Schizophrenien und organischen Störungen des Gehirns auf und wird auch als „Walking Corpse Syndrome“ oder „Nihilistischer Wahn“ bezeichnet.
Hierbei glaubt der oder die Betroffene, dass er tot ist und man ihn beerdigen oder auch sezieren kann um ihm die inneren Organe zu entnehmen. In manchen Fällen ist der Körper nicht nur tot, sondern bereits gänzlich verwest, so dass die Person gar nicht mehr vorhanden ist. Manche glauben sich sogar verdammt und in der Hölle, wobei hier eventuell noch ein Verfolgungswahn hinzutritt.
Jules Cotard beschrieb den Wahn als eine schwerste Form der wahnhaften Depression und tatsächlich findet man ihn häufig kombiniert mit Angst- und Schuldgefühlen. Er kommt jedoch vor allem bei schizophrenen Erkrankungen vor. Interessant ist, dass das Cotard-Syndrom auch als eine sehr seltene Nebenwirkung des Herpesmedikamentes Aziclovir auftreten kann. Die Symptome verschwinden allerdings rasch, sobald der Wirkstoff wieder ausgeschieden ist.

Da auch der nihilistische Wahn eine unkorrigierbare Fehlwahrnehmung der Realität darstellt, kann der Betroffene auch nicht durch Argumente vom Gegenteil überzeugt werden: Durch den Hinweis, dass er doch allein schon deswegen am Leben sein muss, weil man doch mit ihm sprechen kann, wird er sich in seiner wahnhaften Überzeugung nicht beirren lassen.

Die etwas flappsige Bezeichnung „Walking Corpse Syndrome“ also etwa „Lebender-Leichnam-Syndrom“ führt uns noch zu einem weiteren interessanten Gedanken. Bekanntermaßen gibt es in manchen Religionen die Vorstellung, dass sich die Toten aus unterschiedlichen Gründen aus ihren Gräbern erheben und mit den Lebenden in Kontakt treten. Mythen und populäre Bearbeitungen dieses Motivs finden sich in den Geschichten um Zombies, Vampire und lebende Mumien. Es ist zumindest nicht ganz ausgeschlossen, dass sich hier Erfahrungen mit dem Cotard-Syndrom widerspiegeln? … und woher kommt eigentlich der Mythos vom Werwolf?

Lykantrophie

Die Lykanthrophie, abgeleitet von griechisch Wort „lukos“, der Wolf, bezeichnet eine der ältesten bekannten wahnhaften Störungen. Bereits im alten Rom wurden Menschen beschrieben, die nachts auf Friedhöfen zwischen den Gräbern herumschlichen und wie Wölfe heulten oder bellende Geräusche von sich gaben. Das Phänomen ist jedoch in vielen Kulturen bekannt und die Betroffenen identifizieren sich dann mit anderen Raubtieren, wie Tigern oder Katzen.

Die Lykanthrophie tritt vor allem bei schizophrenen Erkrankungen auf, aber auch bei Demenzen oder substanzinduzierten Psychosen, also schweren Räuschen. Auch hier ist der Betroffene nicht von seinem Wahn zu überzeugen, allerdings tritt die Lykanthrophie eher phasenweise und hauptsächlich nachts auf. Von direkten aggressiven Taten gegen Menschen, was den Vampir- oder Werwolfmythos erklären könnte, ist zwar nichts bekannt, aber das Phänomen begleitet die Menschheit wie gesagt schon seit langem. Doch was bringt Menschen dazu ausgerechnet den Wahn zu entwicklen ein Tier zu sein?

Über die Ursachen der meisten seltenen Wahnstörungen gibt es unterschiedliche Theorien. Ein Aspekt könnte sein, dass in der Lykantrophie gewissermaßen verdrängte tierische Anteile des Menschen ausgelebt werden, die ansonsten unterdrückt werden. Zu bedenken bei einer solchen Deutung ist allerdings, dass dieses Ausleben nicht freiwillig geschieht, sondern die Menschen hierzu getrieben werden.

Capgras- und Fregoli-Syndrom

Während der inhaltliche Wahn des Cotard-Syndroms und der Lykantrophie sich auf den Kranken selbst beziehen, existieren auch seltene Wahnformen, im Verlauf derer es zu einer wahnhaften Fehlwahrnehmung anderer Menschen kommt. Auf den ersten Blick besonders bizarr erscheint hier das Capgras-Syndrom. Hierbei glaubt der Wahnkranke, dass die Menschen ihrer näheren Umgebung, aber auch enge Familienmitglieder, durch identisch aussehende Doppelgänger ersetzt worden sind. Bei den Doppelgängern handelt es sich dann um Betrüger. Manchmal geht der Wahnkranke allerdings auch davon aus, dass es sich bei den Personen in ihrer Umgebung nicht um tatsächliche Doppelgänger im wörtliche Sinne handelt, sondern dass die Menschen in ihrer Umgebung, sich so sehr psychisch verändert hätten, dass sie allerdings wie Doppelgänger wirkten. Sie erscheinen also gleichzeitig bekannt und unbekannt.

Der Doppelgänger gehört zu den bekanntesten Motiven der Schauer- und Gruselliteratur. Ob dieses Motiv nun aus den Erfahrungen mit dem sehr seltenen Capgras-Syndrom resultiert, oder umgekehrt, ist dabei allerdings nicht zu beantworten. Aber man kann sich leicht vorstellen, wie grauenhaft dieses Wahnerleben sein muss: Als soziale Wesen ist der Mensch nun mal auf andere vor allem bekannte und verwandte Menschen angewiesen. Sie zu verlieren oder von ihnen hintergangen zu werden erschüttert uns ins Mark.

Dem Capgras-Syndrom ähnlich ist das ebenfalls sehr seltene Fregoli-Syndrom. Hierbei handelt es sich um ein so genanntes „Missidentifikationssyndrom“. Der betroffene Kranke glaubt, dass eine ihm emotional nahestehende Person ihren eigenen bekannten Körper verlassen hat und in einen anderen übergewechselt ist. Diese andere Person bzw. dieser andere Körper muss dabei keine äußere Ähnlichkeit mit dem Ursprungskörper haben. Es wird jedoch häufig berichtet, dass beispielsweise ein kranker Ehemann seine Frau in einem anderen Körper daran erkannt, wie sie ihren Kopf hält, bestimmte bekannte Gesten vollführt oder mit ähnlicher Stimme spricht. In Einzelfällen wird auch davon berichtet, dass es zu einer Missidentifikation auch in Bezug auf Haustiere, häufig Hunde, kommen kann. Man erkennt dann den eigenen Hund am typischen Schwanzwedeln in einem anderen Hundekörper wieder.

Das seltene Capgras- und das Fregolisyndrom können auch gemeinsam häufig im Rahmen von schizophrenen Erkrankungen oder auch schweren Depressionen auftreten. Die Missidentifikationssyndrome wirken auf den ersten Blick besonders bizarr und vielleicht sogar komisch. Doch auch hierbei darf man in keinem Fall den ungeheuren Leidensdruck der Patienten übersehen: Sie werden von ihren nächsten Angehörigen und besten Freunden hinterlistig getäuscht und hinters Licht geführt, ohne zu verstehen, warum. So zumindest stellt es sich für sie dar.

Folie à deux

Eine ebenfalls seltene Wahnstörung die ich zum Schluss noch kurz erwähnen möchte, ist die so genannte Folie à deux, auch „induzierte wahnhafte Störung“ oder „konformer Wahn“ genannt. Einer solche Störung kommt häufig bei Paaren vor oder Menschen, die in einer ungewöhnlich engen Verbindung mit einander stehen. Entwickelt nun eine Mensch eine wahnhafte Störung, sagen wir einen Verfolgungswahn, so kann dieser Wahn gewissermaßen ansteckend sein. Die so genannte passive Partner kann nach einiger Zeit also ebenfalls Symptome zeigen, auch wenn bei ihnen keine Grunderkrankung, wie eine Schizophrenie vorliegt.

Eine ursächliche Behandlung dieser induzierten Störung scheint logisch und simpel und ist doch verblüffend: Man trennt die betroffenen Menschen räumlich voneinander und die Symptome beginnen beim passiven Partner häufig rasch abzuklingen, die Grunderkrankung des aktiven, also des wahnkranken Partners muss jedoch therapeutisch behandelt werden. Je nach Schweregrad kann es aber auch sinnvoll sein, beide Betroffene stationär zu behandeln, wenn sich der induzierte Wahn beim passiven Partner stark verfestigt hat.

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