Homosexualität in der ICD-10

Vielleicht habt Ihr Euch schon über den Titel der heutigen Sendung gewundert?
Was hat eine sexuelle Orientierung in einem Podcast zu Themen für den Heilpraktiker Psychotherapie zu suchen? werdet Ihr Euch vielleicht gefragt haben.

Tatsächlich möchte ich mich heute ein wenig mit der Homosexualität beschäftigen.
Fast noch wichtiger jedoch ist die Homophobie, mit der ich mich im zweiten Teil der heutigen Folge beschäftigen möchte.

Homophobie bezeichnet die Feindschaft gegenüber der Homosexualität. Und diese kann für den Heilpraktiker durchaus eine Relevanz haben. Nämlich dann, wenn sie das Symptom einer pathologischen Angst ist — doch dazu später.

Die Homosexualität ist eine sexuelle Spielart des Menschen und als solche zunächst einmal völlig unproblematisch und selbstverständlich ohne jeden Krankheitswert.
Woher die Veranlagung selbst stammt ist nicht völlig geklärt. Es scheint genetische Faktoren zu geben, sowie Faktoren in der Erziehung oder dem was man Sozialisation nennt. Ebenfalls schwierig ist es einen Überblick über genaue Zahlen zu bekommen, da das Thema in vielen Gesellschaftsschichten tabuisiert ist. Homosexualität gilt vor allem in der Gruppe der Menschen mit einem Migrationshintergrund aus dem islamischen Kulturkreis als Tabu.

Halbwegs aktuelle Zahlen gehen von aus, dass 5 bis 10 % der Gesamtbevölkerung ein sexuelles Verhalten zeigen, dass von der heterosexuellen Mehrheit abweicht. Dazu gehören homosexuelle Männer und Frauen, und die nicht zu unterschätzende Gruppe der Bisexuellen.

Schauen wir zunächst jedoch zurück. Wie wurde die Homosexualität in der Neuzeit wahrgenommen? Karl Heinz Ulrichs war der erste, der sich an einer Art Definition der Homosexualität versuchte: er schuf 1864 den Begriff „Urning“. Ein schwuler Mann habe eine weibliche Seele in einem männlichen Körper, weswegen er eben Männer begehrte. Das umgekehrte Konzept, das eine männliche Seele in einem weiblichen Körper leben könnte, wurde nicht in Betracht gezogen.

Auch wenn das Konzept des „Urnings“ zwar einmal wieder die Frau übersieht, war Ulrichs Schritt jedoch wichtig: Das Schwulsein war von nun an kein Verirrung mehr. Sondern es war ein angeborenes Phänomen und deswegen weder heilungsbedürftig noch das Produkt eines falschen Lebensstils.

Nach Ulrich nahm der Sexualforscher Magnus Hirschfeld den Gedanken wieder auf. Er forderte eine gesellschaftliche Anerkennung der angeborenen Homosexualität und damit Straffreiheit. Im damaligen Kaiserreich wurde die homosexuelle Betätigung nämlich bestraft. Damit ist Magnus Hirschfeld ist der Gründervater der politischen Schwulenbewegung in Deutschland.

Einen Rückschritt stellte die Sichtweise der Psychoanalyse auf die Homosexualität dar. 1905 formulierte Sigmund Freud, dass alle Menschen von Geburt an mehr oder weniger bisexuell seien. Erst die Erlebnisse, Traumatisierungen und die Sozialisation in der Kindheit entscheidet darüber, ob ein Junge homosexuell wird.

Freuds Haltung wird bis heute harsch kritisiert, denn tatsächlich scheint sie auf den zweiten Blick weniger liberal als die seiner Vorgänger Hirschfeld und Ulrichs.
Wenn es nämlich erzieherische Faktoren gibt, die eine spätere Homosexualität begründen, kann man sie auch als Produkt einer falschen Erziehung verstehen.
Und dadurch würde die Homosexualität doch wieder nur eine Abweichung vom vermeintlich richtigen heterosexuellen Liebesleben.
Kontrollieren wir die Erziehung, so kontrollieren wir die spätere sexuelle Entwicklung.
Folglich führt die richtige Erziehung zur richtigen sexuellen Ausrichtung.

Vermutlich tut man Freud mit dieser Interpretation Unrecht, denn er selbst hat sich mehrfach gegen die Pathologisierung der Homosexualität ausgesprochen.

Die weibliche Homosexualität kann auch Freud nicht erklären.
Allerdings beschreibt er 1920 den Fall einer lesbischen Patientin: Sie bringt ihn zu der Einsicht, dass die Homosexualität unter anderem deswegen nicht therapiert werden kann und muss, weil es auf Seiten der Betroffenen keinen Leidensdruck gibt.
Deswegen kann und soll man im Fall der Homosexualität auch nicht von einer Erkrankung sprechen.
So gesehen hat der spätere Freud den früheren Freud korrigiert und nimmt schließlich doch eine ähnlich liberale Haltung ein, wie Hirschfeld und Ulrichs.

Auf unserer kleinen Zeitreise in die Geschichte der Homosexualität sind wir im dritten Reich angekommen. Zu der damaligen Zeit galt der so genannte weibische Mann als Verräter an der Wehrkraft seine Vaterlandes. Und zumindest die männliche Homosexualität wurde mit Gefängnis oder Konzentrationslager bestraft.
Viele Männer kamen unter entsetzlichen Umständen zu Tode und noch immer ist dieses düstere Kapitel des dritten Reiches in der Öffentlichkeit zu wenig bekannt.
Für das Schicksal von lesbischen Frauen im Dritten Reich gibt es ebenfalls Beispiele von Bestrafungen durch Gefängnishaft und KZ-Aufenthalten. Allerdings gab es kein spezielles Gesetz, das die weibliche Homosexualität unter Strafe gestellt hätte.

Trotz der Einsichten Freuds, wurde die Homosexualität in den Klassifikationen der psychischen Erkrankungen bis in die frühen 1970er Jahre als Krankheit aufgeführt.
Sogar in der 10. Auflage der ICD-10 aus dem Jahr 1992 ist die Homosexualität als psychische Störung aufgeführt.

Der Gerechtigkeit halber muss man der ICD-10 jedoch zugute halten, dass diese angebliche Erkrankung bereits seit 1968 „umstritten“ bezeichnet wurde, so dass die Diagnose vermutlich schon zu dieser Zeit nur noch selten gestellt wurde.

Kleine Überreste dieser Pathologisierung lassen sich jedoch bis heute finden: So klassifiziert die ICD-10 noch immer eine so genannten ich-dystone Sexualorientierung, eingeordnet unter den Persönlichkeitsstörungen als F66.1.
Ein Symptom wäre, dass die sexuelle Ausrichtung zwar feststeht, er oder sie jedoch den Wunsch hat, diese auf die eine oder andere Weise zu ändern.

Auch die aktuelle DSM-IV führt als mögliche Diagnose eine „nicht näher bezeichnete sexuelle Störung“, auf, die allerdings ebenfalls das Symptom „andauerndes und ausgeprägtes Leiden an der sexuellen Orientierung“ (302.9) beinhaltet.

Nun konnte man dieses als zu vernachlässigendes Überbleibsel verstehen, aber wie üblich liegt die Tücke im Detail: Besonders auf diese beiden Diagnosemöglichkeiten stützen sich nämlich die so genannten „Konversionstherapien für Homosexuelle“ besser bekannt als „Schwulenheilung“.

Vor allem im Umfeld der Verhaltenstherapie, kam früh der Gedanke auf, dass man die falsch gelernte Homosexualität gewissermaßen wieder verlernen kann, um im nächsten Schritt die richtige, also die heterosexuelle Sexualität zu erlernen.

Dieser Vorgang lautet Systematische Desensibilisierung und Aversionstherapie und wird von John Bancroft noch 1978 in einem Sammelband zu Sexuellen Störungen im Detail beschrieben. Zwar betont auch Bancroft, dass eine solche Therapie nur auf Wunsch der Patienten durchgeführt werden darf. Aber auf die Möglichkeit, dass deren Leiden nicht durch die sexuelle Ausrichtung entsteht, sondern nur an dieser festgemacht wird, geht er nicht ein.

Zwar ist das Angebot an Konversionstherapien in unseren Breiten im Laufe der Jahre zurück gegangen, aber sie werde nach wie vor angeboten.
In Amerika zum Beispiel, im Umfeld der evangelikalen Kirchen sind Schwulenheilungen bzw. deren Angebote gang und gebe.
Hier wird in besonders perfider Weise religiöser Fanatismus mit falsche Diagnostik verbunden: Anstatt zu erkennen, dass das Leid mancher homosexueller Männer und Frauen durch deren Ausgrenzung entsteht, wird das Pferd von der anderen Seite aufgezäumt: Weil Gott auch die verworfenen Homosexuellen liebt, hat er dem Menschen die Konversionstherapie an die Hand gegeben, um das Leiden durch Rückführung auf den rechten heterosexuellen Weg zu lindern.
Wer sich diesem Angebot verweigert kommt in die Hölle, in die er oder sie ohnehin gehört.

Wer sich einen Film zu diesem bizarren Thema anschauen möchte, dem kann ich den Spielfilm „Der verlorene Sohn“ von Joel Edgerton sehr empfehlen. Glücklicherweise mit Happy End.

Weiter geht es mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Nun traten die Naturwissenschaften und schließlich die genetische Forschung ihren Siegeszug an und wie nicht anders zu erwarten war, wurde 1993 schließlich auch ein angebliches „Schwulen-Gen“ identifiziert. Dessen Existenz wurde jedoch bald widerlegt.

Hinzu kamen zoologische Studien, die nachgewiesen haben, dass Homosexualität auch im Tierreich weit verbreitet ist.
Dadurch sollte die Diskussion um die so genannte „Widernatürlichkeit des Schwulseins“ eigentlich beendet sein. Sie ist natürlich. Punkt.

Fassen wir den ersten Teil unserer heutigen Folge kurz zusammen: Die Homosexualität ist ein natürliche Spielart der menschlichen Sexualität. Sie ist weder eine Krankheit, noch eine körperliche oder psychische Störung, die man behandeln müsste. Ein so genanntes „Leiden an der sexuellen Orientierung“ kommt zwar hin und wieder vor, aber die Ursachen hierfür sollten eher in anderen Faktoren des Alltagslebens oder der Biographie gesucht werden.

Bevor wir uns im zweiten Teil der heutigen Folge mit der Homophobie beschäftigen, möchte ich euch auf mein Video aufmerksam machen.
Wie ihr vielleicht wisst, haben gerade wieder die schriftlichen Prüfungen vor dem Gesundheitsamt stattgefunden. Daher habe ich ein Video vorbereitet, in dem ich ein paar grundsätzliche Tipps zum Bestehen der Prüfung gebe. Ausserdem bespreche ich ungefähr zehn Prüfungsfragen ganz ausführlich. Geht auf meine Website „www.pruefungsdoping.de“ — ganz oben rechts findet ihr einen türkis-farbenen Button, der euch zum Video führt. Aber kommen wir zurück zu Thema:

Trotz der vorhin beschriebenen Tatsachen nimmt die Toleranz gegenüber Homosexuellen nicht zu, sondern seit einigen Jahren beständig ab. Machen wir uns doch einmal den Spaß nicht die Homosexualität zu pathologisieren, sondern deren Gegner.

Hierfür müssen wir uns zunächst einige Zahlen anschauen:
Eine Studie in NRW ermittelte im Jahr 2005, dass 70% der Jugendlichen ihr Coming-out im Alter zwischen 15 und 21 Jahren hatten. Mitarbeiterinnen von Jugendzentren berichten, das sich lesbische, schwule und bisexuelle Jugendliche heute zum Teil bereits mit 14 Jahren über ihre homosexuelle Identität im Klaren seien.

Das Outing findet also noch während der Schulzeit statt, was zu einer Konfrontation mit heterosexuellen Mitschülerinnen und Mitschülern führt, die in vielen Fällen nicht angenehm sind.
Eine Studie von 2012 kommt zu dem Ergebnis, dass Berliner Schülerinnen und Schüler der sechsten Klasse „Schwuchtel“ oder “Lesbe“ als Schimpfwort verwenden.

Nun könnte man einwenden, dass Schüler der 6. Klasse — also im Alter von 11 bis 12 Jahren wohl kaum wissen, was sie da reden. Zumal sie selbst gerade in der Phase der sexuellen Reifung stecken, die ja bekanntermaßen anstrengend und verwirrend ist.

Vergleicht man diese Aussagen mit den Befragungen von Erwachsenen, so kommt man leider zu dem Schluss, dass nicht die Aussagen der Kinder das Problem sind. Vielmehr ist es die Haltung ihrer Eltern, die sich in den Aussagen der Kinder ausdrückt.

Auch wenn die Bevölkerung einer Stadt wie Köln hiervon etwas weniger betroffen sein mag, so nimmt die Homophobie in Deutschland kontinuierlich zu.
Es kommt zu Pöbeleien und antischwuler Hetze und es häufen sich die körperlichen Übergriffe.
Speziell für die östlichen Bundesländern werden mittlerweile Warnungen ausgesprochen, sich öffentlich als homosexuell zu erkennen zu geben.

Woher stammt dieses feindliche Verhalten? Und besitzt es möglicherweise einen Krankheitswert oder hat es symptomatischen Charakter? Eine sehr interessante Frage für den Heilpraktiker Psychotherapie.

Zunächst einmal könnten wir uns fragen, welchen Zweck homophobes Verhalten erfüllt. Betrachten wir noch einmal die Gruppe der Jugendlichen, die ein homophobes Verhalten zeigen. Die Ausgrenzung von Menschen mit anderen sexuellen Vorlieben dient dazu, sich der eigenen sexuellen Identität zu versichern und diese überdeutlich zu formulieren:
Seht her, ich bin ein Mann. Er dort ist keiner.
Beziehungsweise:
Ich bin eine Frau und akzeptiere das Rollenmodell, das die Männerwelt mir zugesteht.
Sie dort tut es nicht.

Eine solche soziologische Erklärung klingt erst einmal schlüssig.
Doch dann dürfte eine homophobe Haltung nicht nur unter Heranwachsenden zu finden sein? Denn ein Erwachsener ist sich seiner sexuellen Ausrichtung doch sicher, oder etwa nicht?

Dazu gibt es ein ausgesprochen faszinierendes Experiment der Universität im amerikanischen Georgia. Bei diesem Experiment schauten homophobe Männer Videos, in denen homosexuelle Handlungen gezeigt wurden. Diese homophoben Männer wurden dadurch stärker erregt als nicht homophobe Männer.
Besonders interessant dabei: Alle Teilnehmer der Studie hatten sich selbst als eindeutig heterosexuell bezeichnet.

Eine solche Reaktion nennt man Abwehr. Doch was bedeutet das nun genau?
Homophobie kann unter anderem dadurch erklärt werden, dass manche Männer ihre eigenen, unbewussten homosexuellen Regungen ablehnen.
Die Homophobie wäre dann eine Art Schutzreaktion, um sich nicht mit seiner eigenen Sexualität auseinander setzen zu müssen.

Bei jener Abwehreaktion muss man sich allerdings fragen, was durch die Homophobie eigentlich genau abgewehrt wird. Und hier schließt sich der Kreis: Während Jugendliche sich ihrer Sexualität dadurch bewusst werden, dass sie sich klar abgrenzen, verleiht die Homophobie Erwachsenen ein Selbstbewusstsein:
Seh her, ich habe zwar eine Menge Probleme, aber immerhin bin ich ein ganzer Mann.
Das beweise ich euch dadurch, dass ich alles Unmännliche verabscheue.

Das Wort „schwul“ als Schimpfwort bezeichnet dann nicht so sehr eine sexuelle Orientierung, sondern eine gesellschaftliche Rolle.

In der Vergangenheit schien das homosexuelle Verhalten ein beständiger Angriff auf die traditionelle Familie zu sein. Das darin vermittelte eindeutige Rollenverhalten musste unbedingt eigehalten werden.
Aus genau diesem Grund wird auch die Ehe eines homosexuellen Paares so scharf kritisiert: Hinter dem Hickhack um die Familie als Keimzelle des Staates steckt nichts anderes als die Angst davor, als heterosexueller Mann in einem Lebensstil gefangen zu sein, aus dem es keine Befreiung gibt.
Also lehne ich jeden Menschen ab, der mir diese Mischung aus Zuflucht und Gefängnis streitig macht.

Fasst man die geschilderten Symptome nun zusammen, so erscheint die Homophobie als genau das, was der Name bezeichnet: eine isolierte Phobie, welche die ICD-10 als F40.2 kodiert.

Da es sich hierbei im Gegensatz zur Homosexualität um eine psychische Störung mit Krankheitswert handelt, existieren auch Möglichkeiten der Behandlung: in Frage kommen hierzu vor allem verhaltenstherapeutische Maßnahmen, wie die oben bereits erwähnte Systematische Desensibilisierung.

Der von Homophobie betroffene Patient erlebt zunächst eine starke vegetative Angstreaktion, merkt jedoch nach einer Weile, dass die Angstsymptome nachlassen und er wieder einen klaren Kopf bekommt.

Zum Schluss noch ein Hinweis: Es gibt in sehr vielen Städten Rosa Telefone, um betroffene Menschen und Angehörige zu beraten. Die Beratung erfolgt anonym. Die meisten haben bundeseinheitlich die Nummer 19446.

Leider noch wichtiger: In einigen Städten gibt es auch sogenannte Überfalltelefone für Opfer antihomosexueller Gewalt.
Die meisten haben bundeseinheitlich die Nummer 19228.

Ich hoffe ich konnte Euch einige neue Informationen und Ideen zu unserem Thema vermitteln.
Tut ihr mir einen Gefallen?
Abonniert meinen Podcast.
Vielen Dank.

Und wenn ihr jemanden kennt, den dieser Podcast interessieren könnte — empfehlt mich gerne weiter.

Bevor ich endgültig zum Ende komme, möchte ich euch nochmal an mein Video erinnern: ihr findet es auf meiner Website „pruefungsdoping.de“ — oben rechts, der türkise Button. Wenn Ihr wollt, hören wir uns nächsten Woche wieder.
Dann mit dem Thema Analphabetismus.

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